Offener Brief
Liebe BLS, SBB, ÖBB, DB & andere ÖPNV und Fernverkehrer
Wir verbringen viel Zeit zusammen, und haben uns längst aneinander gewöhnt. Ich bin ein täglicher Nutzer eures Angebots. Ich werde euch heute mal einen kleine Beratung zukommen lassen. Gratis und franko – eine Aufmerksamkeit unter Freunden sozusagen, ob ihr das wollt oder nicht. Und auch weil ich mir davon einen Vorteil für mich verspreche.
Kurz, es geht heute um die «kleine Krisenkommunikation». Die kleinen Pannen im Alltag. Also nicht die krassen Fälle, sondern die kleinen, alltäglichen Situationen. Es kommt bei jeder Marke vor, dass Dinge nicht so laufen, wie sie sollten. Eine Buchung im Hotel kann mal untergehen, eine Lieferung kommt einfach zu spät an, oder eine Dienstleistung verfehlt einmal komplett ihr Ziel. Das ist normal und eigentlich allen klar.
Wie man im echten Krisenfall zu reagieren hat, ist heute allen klar und nach mittlerweile ein paar Jahrzehnten intensiv gepflegter Krisenkommunikation, wissen heute selbst der Dorfmetzger und sein Bruder, dass es nur einen Weg gibt, um aus dem Gammelfleisch-Shitstorm je wieder aufzutauchen. Nichts verschweigen, nichts beschönigen, totale Offenbarung, echte Zerknirschung inklusive öffentlichkeitswirksamer Selbstgeisselung. Das genaue Mass und die Zahl der Schläge hängen dabei auch von der Branche ab. Bei Kindern, Würsten und Trinkflaschen kann es gar nicht zu genug sein, im Politik‑, Finanz- und Rohstoffbereich darf die Zerknirschung auch etwas weniger durchdringend ausfallen – da glaubt es einem sowieso niemand.
Irgendwie hat sich die Strategie der totalen Unterwerfung durch CNN, zu viele Krisenkommunikations-Workshops und einschlägige Managerkürsli so verbreitet, dass wir bald schon vom rotzigen Kindergärteler eine Krisenkommunkationspresskonferenz mit brechender Stimme und echten Tränen erwarten, auch wenn er bloss Maja das Pausenbrot geklaut hat.
Was beim Flugzeugabsturz und grapschenden Priestern sinnvoll scheint, ist im Alltag genau so nutzlos wie die SWAT-Einheit beim Verkehrskundeunterricht. Es nützt einfach nichts, auch wenn der Einsatz massiv ist – im Gegenteil.
Heute zum Beispiel hatte mein Zug 20 Minuten Verspätung bei der Abfahrt wegen eines technischen Problems. Der Zugbegleiter, ein aufrechter Knappsechziger mit Bauchansatz und grauer Tonsur stellte sich, nachdem wir endlich unterwegs waren, in jeden Wagen, entschuldigte sich mit fester Stimme und hielt Blickkontakt zu wem auch immer es nicht zu dumm war, den armen Mann tatsächlich als verantwortlichen zu sehen. Das SWAT-Team war hier einfach fehl am Platz. Erstens weil es ein bisschen peinlich war, vor allem aber, weil das überhaupt nichts mit unseren Bedürfnissen zu tun hatte.
Unser aller Bedürfnis war offensichtlich und erst noch ziemlich einheitlich: wir alle wollten von Bern nach Thun fahren und möglichst pünktlich dort ankommen. Weil Busse und Anschlusszüge nicht und die Familie mit dem Abendessen schon lange auf einen wartet. Das Züge mal nicht funktionieren ist allen klar – jedenfalls wenn man nicht grad drin sitzt – dass aber der Zugbegleiter nicht versteht, was alle seine Kunden wollen, das ist schwach. Und das ist immer das eigentliche Problem. Kunden sind nicht sauer, weil mal etwas schief läuft, sie sind sauer, weil sie glauben, dass man ihre Bedürfnisse missachtet. Und wenn dann die Entschuldigungsmassnahme der Krisenkommunikation, ihr Bedürfnis auch noch ausser Acht lässt, dann fühlen sie sich wirklich verarscht.
Die Reaktion muss beweisen, dass man verstanden hat, was der Kunde eigentlich will. Nur wenn das verstanden und berücksichtig wird, ist die Massnahme etwas wert. Wer die romantisches Hochzeitssuite am zehnten Hochzeitstag gebucht hat, kann auch mit einem gratis Wochenaufenthalt im September nicht besänftigt werden. Der Frust wird nur noch grösser, wenn der verärgerte Gast realisiert, dass man nicht verstanden hat, dass dieser eine Tag perfekt werden sollte.
Wenn Ihr, meine lieben ÖPNVs Verspätung habt, weil eine Zugtüre sich sträubt, eine Strecke nicht frei ist, oder der Lokführer ein altes Lachsbrötchen erwischt hat, ist das ärgerlich. Wenn ihr die Wartezeit (vor allem, wenn man schon im Zug sitzt), damit überbrückt, dass sich die Zugbegleitung entschuldigt und den Grund für die Verspätung darlegt, dann nützt mir das echt nicht viel. In dem Moment beweist Ihr nur, dass ihr nicht begriffen habt, was mein Bedürfnis ist.
Ob euer Zug Durchfall hat oder beim Zugführer die Autotür klemmt, interessiert mich eigentlich nicht. Was ich wissen will ist, ob ich schneller ankomme, wenn ich in diesem Zug warte, oder auf den Bummler wechsle, der zwar länger fährt, dafür aber grad keine Probleme hat.
Krisenkommunikation heisst nicht sich selbst zu geisseln und Besserung zu versprechen – darin sind Pressesprecherinnen und Pressesprecher mittlerweile echte Profis. Gute Krisenkommunikation stellt das Bedürfnis der Kunden ins Zentrum und alles andere ergibt sich daraus.